Wenn man Castingshows aus dem richtigen Blickwinkel betrachtet, sind sie nicht so schlimm. Und dass Talente auf irgendeinem Altar dabei geopfert werden... Ansichtssache.
Ein Fernsehsender ist keine Sozialhilfestelle. Und kein Wohlfahrtsverein. Das sollte man zuallererst einmal registrieren und auch akzeptieren. Es ist eine Firma, die in einem beinharten Geschäft ums Überleben kämpft. Und die vielgelästerte Quote entscheidet halt einmal über mehr oder weniger lukrative Werbeaufträge. Wir meckern einerseits über GIS und GEZ (je nachdem, wo wir wohnen) und Gebührenabzocke, auf der anderen Seite verdammen wir die gebührenfreien Sender, wenn sie mit allen verfügbaren Mitteln versuchen, Seher zu gewinnen. Das kann man halt einmal nicht mit Initiativen zur Rettung des Regenwaldes im Oberlauf des Orinoco.
Niemand bei RTL hat irgendeinen der Teilnehmer gezwungen, zum Casting zu gehen. Und zum Unterschied zum Publikum wissen die meisten Kandidaten recht gut, auf was sie sich da einlassen. Nämlich auf einen gnadenlosen, mörderischen Ausscheidungswettbewerb, wo es am Ende nur einer von 10.000 schaffen kann, ganz oben zu stehen.
Welche Talente wurden da auf welchem Altar geopfert? Sind alle außer Michael Hirte jetzt Verlierer? Ist diese kleine Halbschwedin mit der großen Stimme jetzt arm, weil sie nicht gewonnen hat? Oder dieser Kugeljongleur und der tanzende Derwisch? Was haben sie durch ihre "Niederlage" verloren?
Sie haben eine Chance bekommen und die ist immer noch nicht vorbei. Die Kinder werden sie nicht nützen können, ausgenommen vielleicht dieser Geiger. Und ich finde es auch sehr falsch, Zwölfjährige in so etwas reinzuschicken. Bei den Erwachsenen ist das etwas anderes.
Nur muss man die Erwartungen realistisch sehen. Niemand von denen wird ein neuer Robby Williams. Aber jeder hatte die Möglichkeit, sich anständig und unter professionellen Bedingungen zu präsentieren. Was jeder anschließend daraus macht, ist nicht mehr das Problem von RTL. Der Jongleur wird sich leichter tun, Auftritte zu bekommen. Wenn er sein bisheriges Einkommen aus diesem Geschäft verdoppeln kann - ist er dann ein Verlierer? Wenn der schwule Spanier ein paar zusätzliche Auftritte als Sänger bekommt, ist er dann ein Verlierer? Und so weiter und so weiter.
Dieter Bohlen ist für mich persönlich ein absolutes Brechmittel, aber eines ist er ganz sicher auch: Ein Vollprofi, der das Geschäft von den lichtesten Höhen bis zu seinen unübersehbaren Tiefen perfekt kennt. Und der ganz genau weiß, warum er Michael Hirte im Finale so gepusht hat: Weil er der einzige aller Kandidaten war, mit dem JETZT schnelles Geld zu machen ist. Ich wette, dass schon in den nächsten Tagen überall die CD "Michael Hirte spielt Stille Nacht" zu haben sein wird. Hirte wird seine 100.000 Euro aus der Show bis Jänner verfünffachen und es ist völlig egal, wenn er nachher wieder in der Versenkung verschwindet - sein Leben wird ein anderes sein. Ob besser oder schlechter - kann man dafür RTL verantwortlich machen? Nein, das liegt allein an ihm.
Was man daraus machen kann, hat in Österreich Christina Stürmer gezeigt. Sie hat die erste Staffel von Starmania (unser DSDS) nicht einmal gewonnen. Heute kann sie ihre internationalen Preise und Auszeichnungen gar nicht mehr zählen und Geld hat sie schon jetzt mehr verdient, als sie in ihrem Leben ausgeben wird.
Eine Castingshow macht keine Superstars. Aber durch die Multiplikatorwirkung des Fernsehens bietet sie ein Sprungbrett. Wegspringen muss allerdings dann jeder selbst. Michael Hirte hat das in all dem Wirbel um seine Person beeindruckend realistisch selbst gesagt: "Wenn ich hier gewinne, ist das eine zweite Chance für mich." Mehr nicht. Eine Chance. Die man ergreifen kann, oder nicht.