Dann bleibt die Frage wie berechtigt ein Schamgefühl ist und ob man an dessen Überwindung ggf. arbeiten sollte.
Top-Frage, finde ich, ich hirne da auch dran rum.
Berechtigt ist das Schamgefühl vermutlich in manchen Situationen, plausibel auch. Wichtig könnte sein, dass man sich selber fragt, ob es neben "berechtigt" und "plausibel" in einer Situation auch
hilfreich ist.
Zum Vergleich die Sache mit der Angst: ich stehe auf dem Fünfer und habe eine unglaubliche Angst davor, runterzuspringen. Die Angst ist berechtigt und plausibel, weil es nicht in der Natur des Menschen liegt, in einen Abgrund zu springen. Die Angst warnt ganz berechtigt vor potentieller Gefahr für Leib und Leben. Wenn ich mich jetzt aber entscheide, dass die Angst in diesem speziellen Fall nicht hilfreich ist, weil es objektiv betrachtet keine wesentliche Gefahr gibt (da unten ist ja weder Erde noch Fels, sondern Wasser!), dann kann ich mich vielleicht darüber hinweg setzen und springen. Wenn ich das oft genug wiederhole und keine negative Erfahrung mache, dann kann es sein, dass nach langer Zeit die Angst vor dieser speziellen Art von Sprung wegtrainiert wird.
(Wobei ggf. auch 20mal noch nicht ausreicht - ich hab selbst nach 30 Sprüngen vom Dreier in der letzten Zeit noch immer tierisch Angst, wenn ich oben bin, und das alberne midlife-crisis-inspirierte Projekt "ich werde auf meine alten Tage doch noch ein selbstbewusster Dreier-Springer!" hab ich mittlerweile abgebrochen.)
Zur Scham: ich stehe in ner Umkleide in Rock und Strumpfhose, und es ist die Scham, die mich davon abhält, nun da herauszutreten und mich den Leuten zu zeigen. Die Scham ist berechtigt und plausibel, weil es nicht in er Natur des Menschen liegt, gegen die Normen zu handeln, die die Sozialisation vorgibt. Die Scham warnt ganz berechtigt vor der Gefahr, sozial ins Abseits zu geraten. Wenn ich mich jetzt aber entscheide, dass die Scham in diesem speziellen Fall nicht hilfreich ist, zum Beispiel weil ich gar nicht so sehr von der wohlwollenden Bewertung der Menschen um mich herum abhängig bin, wie mein Unterbewusstes mir suggeriert, dann kann ich mich vielleicht darüber hinweg setzen und mich der Öffentlichkeit preis geben. Wenn ich das oft genug wiederhole und keine negative Erfahrung mache, dann kann es sein, dass nach langer Zeit die Scham, die dieses spezielle Setting auszulösen in der Lage ist, wegtrainiert wird.
Das wäre vielleicht ein möglicher Weg, wie man diese "Überwindung" hinbekommen könnte, von der Du sprichst.
Ich hab jetzt lange überlegt, wann ein Schamgefühl
berechtigt sein könnte (also im Sinne von "angemessen") und wann nicht. Sehr schwierig. Irgendwie komme ich am Ende immer auf die Frage, ob es auf der Welt so etwas wie
ethische Grundsätze gibt, die absolute Gültigkeit haben. Wenn es diese nicht gibt, dann kann es so etwas wie "objektiv betrachtet angemessen" oder "objektiv betrachtet nicht angemessen" wohl nicht geben, und es liegt alleine im Auge eines Betrachters, der die Tat an seinen eigenen Werten und Grundsätzen misst und entscheidet, ob Scham an dieser Stelle nun angemessen ist oder nicht.
Eine Frau klaut einer 90jährigen Oma die Rente aus dem Geldbeutel im Rollator. Später schämt sie sich für ihre Tat. Ist es fair zu sagen, dass in diesem Fall
ethische Grundsätze verletzt worden sind und dass die Scham plausibel ist und auch berechtigt im Sinne von "angemessen", und vielleicht auch hilfreich, weil sie helfen kann, zukünftiges Verhalten in andere Bahnen zu lenken?
Ein Mann rennt draußen mit Shorts und Strumpfhosen rum, dabei empfindet er plötzlich Scham, die daher rührt, dass er das, was er tut, mehr am Wertesystem anderer misst als an seinem eigenen. Das eigene Wertesystem sagt: das ist in Ordnung! Objektiv betrachtet verletzen Tat und Wertesystem keine
ethischen Grundsätze (verflixte Sache mit der Objektivität!). Geschädigt werden kann nur der Mann selbst durch sein eigenes Tun (soziales Abseits). Ist seine Scham nun "berechtigt" (im Sinne von "angemessen") oder nicht? Verrückterweise scheint mir das am Ende eine Frage der Entscheidung zu sein, die der Mann selbst treffen muss. Entscheidet er sich in voller Integrität, dass das Ausleben seiner Vorliebe ihm wichtiger ist als die Bewertung seiner Mitmenschen, so folgt für mich daraus, dass seine Scham zwar plausibel ist, dass sie aber nicht berechtigt ist und auch nicht hilfreich. Geht seine Entscheidung aber in die andere Richtung - sprich: es ist de facto so, dass dem Mann mehr Leid als gutes erwächst aus dem, was er tut -, so ist die Scham plausibel, berechtigt und vielleicht sogar hilfreich, weil sie ihn vor zukünftigem Unheil bewahren kann.
Der gleiche Mann begleitet in Shorts und Strumpfhosen einen von ihm abhängigen Schutzbefohlenen in der Öffentlichkeit. Dieser Schutzbefohlene wird in der Folge aufgrund des Aussehens seines Begleiters gemobbt und verprügelt. Der Mann hätte vorhersehen können, dass so etwas nicht unwahrscheinlich ist. Er schämt sich nun für seinen Aufzug in dieser speziellen Situation. Sein eigenes Wertesystem sagt immer noch: es ist in Ordnung, als Mann solche Kleidung zu tragen! Es wäre wohl schwierig zu sagen, dass ethische Grundsätze verletzt worden sind (denn wenn jemand diese Grundsätze verletzt hat, dann sind es die anderen beteiligten, von denen das Mobbing ausging). Die Scham ist plausibel. Ist sie auch berechtigt und hilfreich? Knifflige Aufgabe, die knacke ich heute nicht mehr.
So viel für den Moment. Ihr merkt schon, mich hat das Thema gepackt. Ich hoffe, dass ich keinen Stuss getippt habe. Bitte stoppt mich, wenn es zu wild oder abstrus wird. Gute Nacht.